Sonja Wenzel

Ein schwarzes Tuch um den Kopf, ein graues Umschlagtuch, schwarzer, langer Rock und dicke Wollstrümpfe: Eine zierliche Frau, vergangenen Jahrhunderten entstiegen – so wirkte Angelika Zöllmer-Daniel bei ihrer so treffenden Darstellung der Armut: „Ich begleite die Menschheit seit ewigen Zeiten“, waren ihre Einstiegsworte zur Veranstaltung „Mein ganzes äußeres Leben zerrt mich hin und her… – Frauenarmut gestern und heute“. Das bedeutete: Zwei Stunden Rundgang durch Husum mit Halt an Plätzen und Gebäuden, die in der Raschheit des Alltags keine Beachtung finden, kaum wert, den Blick zu heben – und die doch unendliche, zu Herzen gehende Geschichten erzählen können von Not und Elend, von Krankheit, Siechtum und mancher ausweglosen Lebenssituation.

Im Rahmen der noch bis zum 20. August laufenden Ausstellung „Kunst trotz(t) Ausgrenzung“ hatte das Diakonische Werk Husum diese Veranstaltung initiiert. Sie wurde von der Husumer Frauengeschichtswerkstatt sowie der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt geleitet. Bei der Lesung an verschiedenen Stationen wurde Angelika Zöllmer-Daniel von Siegfried Carstensen, Soziologe i.R., unterstützt. An dem Rundgang nahmen über 20 Personen, zumeist Frauen, teil. Für Interessentinnen und Interessenten, die die Veranstaltung nicht wahrnehmen konnten, gibt es eine gute Nachricht: Der Rundgang mit der packenden, lebendigen Darstellung menschlicher Schicksale wird auf Grund der hohen Nachfrage wiederholt. Daten und Uhrzeiten werden in der örtlichen Presse veröffentlicht.

Gerade Frauen waren – und sind leider oftmals immer noch – ganz besonders von Armut betroffen, gleichgültig, ob sie Mütter, Arbeiterinnen oder Witwen, Alleinstehende, Alleinerziehende oder Dienstmägde waren. Reichlich blutige Begebenheiten mit Frauen gab es auch in Husum. Da war beispielsweise Ellien Abels, die ihr Neugeborenes tötete, weil sie nicht wusste, wie sie es durchbringen sollte. Sie wurde für diese Tat zum Tode verurteilt. Diese wahre Geschichte spielte sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts ab. Viel früher, nämlich im Jahre 1687, wurde Margaretha Carstens, die „Teufelsbuhle“, ebenfalls zum Tode verurteilt. Zwar sollte dies der letzte Hexenprozess in Husum sein, doch Rechtlosigkeit von Frauen und ihre ganz spezielle Armut waren noch lange nicht zu Ende. Der Ausspruch vom „Hin- und Hergezerrtsein“ stammt von Franziska zu Reventlow, im Husumer Schloss geboren und von guter Familie: Sie begehrte gegen die gesellschaftlichen Fesseln des 19. Jahrhunderts auf und wollte ihren eigenen Weg gehen: Sie erfuhr dabei Verlassensein, Armut, Not und Elend aus erster Hand.

Doch es gab auch Hilfe, Milde und Barmherzigkeit für Kranke, Mittellose und Bedürftige: Eine gewichtige Bedeutung kam der Kirche und ihren Einrichtungen zu, nachdem Luther Gott nicht mehr als strafend, sondern als liebend darstellte. Die Menschen begannen sich zu engagieren für jene, die Not litten. Stifter und Stifterinnen ersetzten damals die heutige Sozialgesetzgebung. Im 19. Jahrhundert machten sich Anna Catharina Asmussen – und ebenso ihr Cousin August Friedrich Woldsen – um Arme verdient. Beide waren kinderlos und starben vermögend. Noch heute gibt es das „Asmussen-Woldsen-Vermächtnis“, eine Stiftung, aus der viel Gutes geschöpft wird. Der „Tine-Brunnen“, eines der Wahrzeichen Husums, ist Anna Catharina Asmussen gewidmet. Sie gründete eine „Warteschule“, einen Kindergarten für Kinder von 2 bis 7 Jahren – direkt neben der Marienkirche, der vom Ende des 19. Jahrhunderts bis ins Jahr 1961 aktiv war. In heutiger Zeit war dies zunächst die „Altenbegegnungsstätte“, später dann „Servicestelle für Quartiersentwicklung und Seniorenarbeit“. Testamentarisch hielt sie fest, dass Kindern arbeitender und auf den untersten Sprossen der Leiter stehender Eltern Bildung zuteilwerden müsse. Emma Carstensen, Mitbegründerin der Demokratischen Partei in Husum, war – neben Christine Petersen – im Jahre 1919 die erste weibliche Stadtverordnete. Sie übernahm Vorstandstätigkeiten im emanzipatorischen Verein „Frauenwohl“ und gründete 1915 den Hausfrauenverein, um die Kriegsnot zu lindern. Liette Eller, Mutter von drei blinden Kindern, setzte sich im 19. Jahrhundert für eine bessere Heilversorgung Hilfsbedürftiger ein. Ihre Bemühungen mündeten in Husum viel später in die Evangelische Frauenhilfe. Das „Gasthaus zum Ritter Sankt Jürgen“ aus dem 15. Jahrhundert blieb bis ins 19. Jahrhundert der wichtigste Träger der Armenfürsorge in Husum. Von der Bürgerschule, die allen Kindern zu Bildung verhalf, über die „Höhere Töchter-Schule“ der Sophie Jacobsen bis zur ehemaligen „Pracherstraße“ – heute Nordbahnhofstraße –, wo die Ärmsten der Armen lebten und wo ein „Anstaltskomplex“ zur Betreuung Bedürftiger entstand mit Suppenanstalt, Spinn-, Näh- und Strickschule, Werk- und Krankenhaus: In Husum haben sie alle ihre Spuren hinterlassen. War etwa im 19. Jahrhundert die Unterstützung Notleidender mehr als nur ein Appell, nämlich aktiv zu verstehen und verbunden mit dem Einräumen von Chancen, so war sie doch stets amtlich-autoritär und nie auf Augenhöhe. Damals galten Arme immer noch als „Parasiten“ und „Schmarotzer“, die dem Müßiggang frönten und einem faulen, unsittlichen Lebenswandel oblagen. Nach und nach schwand auch die Bereitschaft zur Unterstützung.

Armut hat viele Gesichter: Im vergangenen Jahr gab es über 300 Alleinerziehende in Husum und Umgebung. 85 Prozent der Alleinerziehenden in Schleswig-Holstein sind weiblich, 15 Prozent männlich. Noch heute beziehen Frauen in unendlich vielen Fällen ein geringeres Altersruhegeld als Männer. Sie sind es auch, die der Familie wegen in Teilzeit arbeiten. Armut ist immer noch weiblich und das Risiko, ihr anheimzufallen, ist groß: Davor schützt auch nicht unbedingt eine gute Ausbildung. Auf jeden Fall haben viele kluge Köpfe daran gearbeitet, dass sich das Sozial-System zu dem entwickeln konnte, was es heute ist. Der Stadtrundgang zeigte eindrücklich die Entwicklung der Fürsorge für Menschen auf der Schattenseite des Lebens. Wer an der Veranstaltung teilnahm, hat ganz gewiss etwas für sich selbst mitgenommen.

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