Besonders freute sich der DW-Aufsichtsratsvorsitzende Siegfried Schulze-Kölln, dass seine ehemalige Schülerin als arrivierte Schriftstellerin, die die Bestsellerlisten anführt, zum zweiten Mal hintereinander den Weg ins DW zur Autorenlesung gefunden hat. Er umriss in seiner Begrüßungsansprache kurz die Aufgaben des Diakonischen Werks und dankte allen Unterstützenden für die zahlreiche Teilnahme an den traditionellen Lesungen. Er freute sich über die stetige Festigung der kleinen, aber so wichtigen Netzwerke in all den vielen Gesprächen außerhalb der Kernveranstaltung.

Eine Frau im dunkelblauen Kleid mit kontrastierenden Galons an den Seiten, dazu Chelsea Boots; das blondgescheitelte Haar schimmert hell, die Hornbrille reitet auf der Nase: Dörte Hansen, nordfriesische Beststellerautorin, hat mit ihrem Buch am Lesepult vor dem Mikrofon Platz genommen – eine kleine Person, auf der mehrere Dutzend Augenpaare erwartungsvoll ruhen. So zierlich sie auch ist: Sie schlägt alle Zuhörer in ihren Bann mit ihrer Ausstrahlung, ihrer Erscheinung und mit dem Inhalt, der ihrer Feder entquillt, eben noch eingesperrt zwischen Buchdeckeln und nun, freigelassen, sich entfaltet zu „Mittagsstunde“ – einem unglaublich dichten, bildreichen und sprachgewaltigen Stimmungsgemälde über ein nordfriesisches Dorf irgendwo im Nirgendwo.

Auch wenn die Nordfriesen auf überbordenden Karnevalswitz eher gelassen reagieren, so ist doch die heuer zum zehnten Mal stattfindende „Aschermittwochslesung“ eine feste Größe im Jahresablauf des Diakonischen Werks Husum. Stets charmant und sachkundig moderiert von Professor Dr. Maria-Theresia Leuker-Pelties – dieses Mal im meergrünen Etuikleid mit farblich passenden Pumps – und ebenfalls in bewährter Manier buffetmäßig exzellent unterfüttert vom Cateringservice des Christian-Jensen-Kollegs in Breklum. Eingeladen zu diesen Kulturabenden sind jene Unterstützer des DW, die jahrein, jahraus zuverlässig kooperieren und dort helfen und genau hinschauen, wo andere schon längst den Blick gesenkt haben.

Dörte Hansen (55) wurde in Husum geboren und wuchs in Högel auf. Sie baute das Abi an der Theodor-Storm-Schule, zu der sie immer noch Kontakt hat. Sie liebt das Plattdeutsche, beschäftigte sich intensiv mit Baskisch, Finnisch und Gälisch und studierte Linguistik, Anglistik, Romanistik und Frisistik in Kiel. Sie promovierte über ein sprachwissenschaftliches Thema, war Journalistin und Hörfunkredakteurin. Heute lebt sie als freie Schriftstellerin mit ihrer Familie in der Nähe von Husum.

„Mittagsstunde“ ist ihr zweiter Roman. Er spielt in Brinkebüll, einem imaginären nordfriesischen Kaff, dessen Menschen gewissermaßen im Zeitraffer eine gewaltige Gesellschaftsveränderung erleben. Die „Gesellschaft“ ist nicht anonym und irgendwo da draußen, sondern sie ist direkt bei und in den Menschen, und die Veränderungen nehmen ungefragt Besitz vom kleinsten Zipfelchen ihrer Existenzen, Gegenwehr ist zwecklos. Da ist im Zentrum die Landwirtschaft, die in den 1950-er Jahren flurbereinigt wird, da sind die pfützigen Höfe, die dampfenden Misthaufen, die wrackigen, pötternden Trecker, die Ställe, aus denen das Vieh lautlos auf Nimmerwiedersehen verschwindet, die stille Ahnung davon, welcher Hof als nächstes aufgibt; es kommen Raps und Mais, Windräder und Biogasanlagen. Da ist der Schulbus, der behäbig „wie ein Kartoffelroder“ die Kinder, lauter kleine Saatkartöffelchen, zum Born der Bildung schafft. Da sind aber auch die knorrigen, „sehr speziellen“ Menschen wie Marret Feddersen, die in weißen Klappern ungefragt in die Dorfküchen latscht und vom drohenden „Ünnergang“ orakelt, da sind ihre Eltern, die die Dorfkneipe führen, ihr Sohn Ingwer, der nicht Kröger wird, sondern auf Archäologie studiert und irgendwie selbst aussieht wie etwas Ausgegrabenes; und der Dorflehrer Steensen, der einem eher rustikalen Erziehungsverständnis anhängt und nichts von „ungekämmten Pulloverträgern“ hält, die gewaltfreie Pädagogik predigen. „Ich musste für dieses Buch einen eigenen Ton finden“, sagt die Schriftstellerin. Jede Geschichte verlange eine eigene Machart. Sie habe durch ihren Beruf als Journalistin und Redakturin gelernt genau hinzuhören und zu -sehen. Es sollte kein „Landlustroman“ werden, kein tränenreicher Rückblick und keine „Abrechnung“. In erster Linie sei es ihr um das Verstehen gegangen, warum so viele Menschen Verlust empfinden: „Viele haben keine Heimat mehr, und das innerhalb von 50 Jahren, das ist eine kurze Zeit, man kommt mit der Seele nicht hinterher.“ Dörte Hansen hat „Mittagsstunde“ mit „großer Zärtlichkeit und Demut“ geschrieben – und irgendwie ist Brinkebüll austauschbar und überall. In „Mittagsstunde“ findet sich jeder wieder, entdeckt Ähnlichkeiten, die die Autorin überhaupt nicht beabsichtigt hat. Auf ihren Lesereisen wird sie vom Publikum angesprochen, und da ist Brinkebüll plötzlich auch im Schwabeländla gegenwärtig: „Ha, wisset Sie, des isch genau wie bei uns“, heiße es mitunter charmant schwäbelnd.

Geschäftsführer Volker Schümann dankte der Autorin für die beeindruckende Lesung, der angenehmen Moderation, allen Aufsichtsratsmitgliedern und dem Organisatoren-Team, allen voran Birgit Albertsen und ihrer Crew für die verlässliche Zusammenarbeit und das vertrauensvolle Miteinander.

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