Sonja Wenzel

„Wird auch nur ein einziger aus einer riesigen Menge gestrandeter Seesterne wieder ins Wasser geworfen, so ist dies für diesen Seestern sehr wichtig“ – so der Inhalt einer Geschichte in der Lesung. Der Junge Alidad aus Afghanistan ist so ein Seestern: Gestrandet in Europa nach einer langen Reise, die er u. a. auf der Achse eines Lastwagens liegend verbringt, ist er nicht nur vor Krieg, Armut und Hunger geflohen, sondern gerät auch in die Mühlen einer langsam, oft übergründlich mahlenden Bürokratie. „Seestern in Südtirol“ erzählt die Geschichte des Jungen, der als unbegleiteter Minderjähriger in Südtirol ankommt, der keine Papiere und keinen – wie in der westlichen Welt üblich – Nachnamen besitzt, weil dies in seinem Heimatland aufgrund anderer gesellschaftlicher Strukturen gar nicht notwendig ist.

„Seestern in Südtirol“ – ein soziales Projekt im Rahmen der Interkulturellen Woche – wurde nach einer wahren Geschichte konzipiert in einer Kooperation mit dem „Theater in der List“ in Hannover. Gelesen wurden die Szenen von Yvonne Fritzsche-Nehls, Maria Lindner-Hartley und Urte Andresen. Eingeblendet wurden filmische Szenen, in denen Alidad zu Wort kommt. Er ist heute ein erwachsener junger Mann, der ein Studium aufgenommen und seine neue Heimat gefunden hat. Aber wie ist es denn nun: Ist Alidad einer, „der mit allen Tricks arbeitet“, ein „Meister im Lügen“ und werden „Steuergelder verschwendet an Betrüger“? Oder ist er bloß ein Kind, das einfache, aus tiefstem menschlichem Herzen kommende Hilfe so dringend braucht wie die Luft zum Atmen – und das einem natürlichen Überlebenswillen folgt, aber gefangen ist in Strukturen unterschiedlicher Kulturen? Verschiedene Standpunkte in der Gesellschaft – Vorurteile und gelebter Wille zur Integration, „gut“ und „böse“ – nicht immer vorhersehbar, zwei Seiten einer Medaille: die Szenenlesungen zeigten, dass Alidads Geschichte tagtäglich überall in Europa stattfindet.

An der anschließend geführten Podiumsdiskussion, die von Literatur-Professorin Dr. Maria-Theresia Leuker-Pelties geleitet wurde, beteiligten sich Peter Martensen, Integrationsbeauftragter des Kreises Nordfriesland, Stefan Kleinfengels, zuständig für unbegleitete Minderjährige beim Jugendamt des Kreises Nordfriesland sowie Orhan Ali, der selbst als unbegleiteter Jugendlicher vor dreieinhalb Jahren aus dem Irak nach Deutschland kam. Als „berührend und realistisch“ beurteilte Martensen die Lesung und merkte besonders den „moralisch erhobenen Zeigefinger“ an, der in der Lesung so plastisch dargestellt wurde. Orhan habe sich nach eigenem Bekunden „eigeninitiativ schnell integriert und aus jeder Situation das Beste gemacht“. Wichtig sei nach den Worten von Kleinfengels aber auch die Professionalität der Unterbringungseinrichtungen: „Es müssen eine adäquate Versorgung, die Schulanmeldung und die Vormundschaft geregelt werden. Aber es muss auch Vertrauen aufgebaut werden“. Ohne die jungen Menschen am Fortgang ihres Schicksals zu beteiligen, ihnen auch Raum zu lassen, gehe es nicht: „Sonst kommen sie aus dem Fluchtmodus nicht heraus und funktionieren nur.“ Außerdem seien die bestehenden Fach- und Beratungsstellen sowie die Mitarbeit von ehrenamtlich Tätigen unerlässlich. Auch die Sprache habe gewichtigen Anteil an einer glattlaufenden Integration: Für „Sprachstandserhaltungskurse“ warb Martensen – damit das Gelernte nicht in Vergessenheit gerate. „Das Reden ist wichtig“, so Orhan Ali. „Bloß nicht abschotten“ – er habe sich „auf die Jagd“ nach Menschen begeben, die mit ihm auf Deutsch kommunizieren wollten. Und: „Wer sich integriert, hat Hilfe verdient.“ Gleichwohl falle ihm auf, dass hier „jedermann stets stark beschäftigt sei“. Er habe sich hier immer sicher gefühlt durch eine „behütende Unterbringung“. Dennoch: „An manchen Tagen fehlen mir der Rückhalt durch die Familie, meine Eltern und meine Kultur. Dann ist da ein Loch in mir.“ „Wir haben ein enges Netzwerk“, so Kleinfengels und Martensen. „Wir nutzen alle Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen, auch die gute Kommunikationskultur, die wir in Nordfriesland haben.“ An der Veranstaltungsreihe der Interkulturellen Woche mit verschiedenen Aktionen, wie Filme, Theater oder Lesungen, sind die Organisationen und Einrichtungen „Fremde brauchen Freunde“, „Westküste Ahoi“, der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein, der evangelisch-lutherische Kirchenkreis Nordfriesland sowie die Diakonischen Werke Husum und Südtondern beteiligt. Förderer sind der Kreis Nordfriesland, die Robert-Bosch-Stiftung und die Aktion Mensch. Die Schirmherrschaft für diese Veranstaltung in Nordfriesland hatte Husums Bürgermeister Uwe Schmitz übernommen. Er dankte allen Beteiligten für das Engagement. „Gegenseitiges Verstehen geht nicht ohne die Akzeptanz von Denken und Handeln. Dies wiederum gilt nicht nur beim Aufeinandertreffen, sondern im Zusammenleben als ein ganzes Volk.“ Die szenische Lesung wird am 26. September (Do.) um 18 Uhr in Leck in der Bücherei wiederholt.

Zum Foto: Sie gestalteten die szenische Lesung „Seestern in Südtirol“: Prof. Dr. Maria-Theresia Leuker-Pelties,  Orhan Ali, Stefan Kleinfengels, Maria Lindner-Hartley, Yvonne Fritzsche-Nehls, Urte Andresen, Peter Martensen (von rechts oben im Uhrzeigersinn).

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