Sonja Wenzel
Die Menge der auszugebenden Waren nimmt zwar ab, aber es gibt auch eine gute Nachricht: „Wir können Menschen, die Hilfe brauchen, immer noch eine Tasche voll Lebensmittel auf den Heimweg mitgeben“, sagte Volker Schümann, Geschäftsführer des Diakonischen Werks Husum, in seiner Ansprache vor etwa 70 geladenen Gästen anlässlich der Geburtstagsfeier der Tafel Bredstedt. Seit eineinhalb Jahrzehnten ist sie in Bredstedt eine zentrale Anlaufstelle für Menschen in finanzieller Bedrängnis. Doch wird hier nicht nur die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln sichergestellt; die Tafel ist gleichzeitig ein „Hot Spot“ für Begegnungen und „Netzwerkeln“. Mitunter lautet die Meinung, Tafeln dürfe es eigentlich nicht geben oder sie seien in einem so reichen Land wie Deutschland „eine Schande“. Professor Dr. Stefan Krüger, Aufsichtsratsvorsitzender des Diakonischen Werks Husum, trat dieser Ansicht entgegen: „Was macht es mit den Menschen, die ehrenamtlich bei der Tafel arbeiten, wenn diese als ‚Schande‘ bezeichnet wird? Die Gesellschaft braucht Personen mit Herzblut und Engagement. Wir feiern heute das Ehrenamt, denn Sie alle setzen ein Zeichen für Mut und Zuversicht.“
Um ein Drittel sei die Kundenanzahl in diesem fast vergangenen Jahr gestiegen, sagte Sylke Watter, die die Tafel Bredstedt leitet. „Zunächst waren es 100 Familien, jetzt sind es etwa 140. Die Lebensmittelspenden sinken, doch wir müssen niemanden wegschicken. Es gibt keinen Aufnahmestopp“, sagte sie. Doch seien einige mitunter enttäuscht, wenn bestimmte Waren nicht zu bekommen seien, erklärte sie auf Nachfrage von Geschäftsbereichsleiterin Adelheit Marcinczyk. Armut ist ein massives Hemmnis für soziale Teilhabe: „Viele trauen sich aus Scham nicht zur Tafel, obwohl sie ein ganzes Arbeitsleben hinter sich haben“, äußerte Andreas Lüttkemeyer, ehemaliger Ergotherapeut und durch viele Lebensbrüche jetzt selbst Kunde bei der Tafel. Bei der Tafel Bredstedt werde man nicht „abgekanzelt“, sondern sei willkommen. Von Armut Betroffene müssen aus ihrem Schneckenhaus hervorkommen, doch das erfordere viel Kraft und Energie. Immerhin gebe es im ländlichen Raum Nachbarschaftshilfe, die man versuchen sollte anzunehmen.
Den Finger in die Wunde namens „Armut“ legte auch Prof. Dr. Kai Marquardsen von der Fachhochschule Kiel in seinem Vortrag „Armut, soziale Ungleichheit und die Rolle der Tafeln“. Er postulierte ein „bedingungsloses Recht auf Teilhabe“ eines jeden Menschen. Als soziale Ungleichheit bezeichnete er es, wenn Personen aufgrund ihrer Stellung in einer Gesellschaft mehr oder weniger der „wertvollen Güter“ erhalten als andere. Armut hingegen sei eine extreme Ausprägung der sozialen Ungleichheit, die Handlungsspielräume durch Unterversorgung und Mangellage in verschiedenen Lebensbereichen erheblich einenge. Ein Grund für dieses Problem liege in einem Wirtschaftssystem, das die Vermehrung des Kapitals zum Selbstzweck erhoben habe, wobei die Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen zweitrangig sei. Die Privatisierung öffentlicher Aufgaben und der Siegeszug des Neoliberalismus tun ein Übriges. Soziale Probleme werden von der Gesellschaft nach den Worten Marquardsens oft als „individuelle Verhaltensdefizite“ abgeurteilt, doch seien Betroffene oft derart mit der Bewältigung ihres prekären Alltags beschäftigt, dass sie weder ihr Potenzial noch ein auf die Zukunft gerichtetes Denken entfalten können. Die Rolle der Tafeln definierte der Redner als „großartig, dass es sie gibt“, aber auch als „Ausdruck sozialer Ungerechtigkeit“ und als „Versagen des Sozialstaates“. Hilfe werde privatisiert und signalisiere staatlichen Stellen, dass nicht gehandelt werden müsse.
„Jesus stand auf der Seite der Armen – wo steht die Kirche?“ So lautete die etwas provokante Frage von Propst Jürgen Jessen-Thiesen an eine ausgewählte Gesprächsrunde. Teilnehmende waren Bischöfin Nora Steen, Landespastor Heiko Naß, Prof. Dr. Kai Marquardsen, Christian Grelck vom Kreis Nordfriesland und Prof. Dr. Stefan Krüger. „Wir sitzen alle in einem Boot, die Kirche grenzt niemanden aus“, so Nora Steen. „Wir organisieren Kleiderstuben, Mittagstische und viele Gemeinschaftsangebote. Wenn wir uns nicht engagieren würden, würde vieles wegfallen.“ Durch den Armutsbericht des Landes, der unter anderem mit Rückmeldungen aus den Beratungsstellen und mit Selbstzeugnissen von Menschen, die von Armut betroffen seien, unterfüttert sei, sei eine „fantastische Argumentationsgrundlage“ geschaffen worden, um sich viel besser mit dem Thema Armut befassen zu können“, so Heiko Naß. „Wir versuchen, Menschen in Not zu helfen und Existenzen zu sichern“, so Christian Grelck. Der Sozialstaat funktioniere in weiten Bereichen „noch ganz gut“. Rund 210 Millionen eines eine halbe Milliarde umfassenden Haushalts gehen in Soziales und Arbeit, weitere 120 Millionen in den Bereich „Jugend“. „Dies zeigt, dass etwas passiert.“ Gleichwohl stelle sich die Frage, weshalb der Kreis ein umfängliches Programm zur Energiehilfe auflege, aus dem bis jetzt nicht einmal 100.000 Euro abgerufen worden seien.
Auf die Frage des Propstes „Kann Hilfe einen positiven Einfluss haben oder den Weg aus der Armut versperren?“ antwortete Marquardsen kurz und bündig: „Wir brauchen mehr Lobby für Soziales.“ Die Runde hatte weitere Beiträge einzubringen: Tafeln seien eine wohltuende, niedrigschwellige Hilfe und Teil eines Netzwerkes, das helfe, Armut zu verhindern. Manche Leistungen seien „zu bürokratisch“ zu bekommen, auch müsse der Leistungserhalt „entstigmatisiert“ und nicht sofort misstrauisch auf Missbrauchsverdacht beäugt werden. „Wir müssen unser Bild der Menschen in Armut verändern“, hieß es. Schlussendlich sei die tägliche Verwaltung des eigenen Alltags in Armut ein dauerndes Ringen um die eigene Würde – und schon das sei eine großartige Lebensleistung.
„Jeder Bedürftige wird bei den Tafeln angenommen, doch trauen sich viele nicht hinzugehen. Ich wünsche mir, dass wir das ändern könnten“, sagte der Husumer AWO-Vorsitzende Ronald Schümann. Die AWO leitet gemeinsam mit dem Diakonischen Werk Husum die Tafeln. Für das gute Miteinander dankte Volker Schümann, ebenso den Ehrenamtlichen, der Leiterin Sylke Watter und der Geschäftsbereichsleitung Adelheit Marcinczyk. Ein großes Dankeschön erhielten Sabine Kock und ihr Team, die die Veranstaltung organisiert hatten.