Sonja Wenzel

Gut behütet unter einem Zeltdach und abgeschirmt gegen die Unbill der Witterung, erhielt kürzlich das interessierte Publikum die Gelegenheit, eine Lesung des Münchner Autors Markus Ostermair zu erleben. Im Rahmen der Ausstellung „Kunst trotz(t) Ausgrenzung“ las der 42-Jährige im Garten der Bahnhofsmission Husum aus seinem im Herbst 2020 veröffentlichten Debütroman „Der Sandler“. Dieser Ausdruck wird in südlichen Regionen für Menschen verwendet, die ohne Obdach sind. Ostermair widmet sich damit einem ungewöhnlichen Thema und schaut dort besonders genau hin, wo andere schon längst weggesehen haben – sei es aus Scham oder aus Gleichgültigkeit. Eine der Hauptpersonen des Buches ist Karl Maurer, der mal bessere Tage erlebt hat. Er war Familienvater und Mathelehrer, lässt jetzt aber schon zum Frühstück eine Dose Bier durch die Kehle rinnen, streift durch die Stadt, pennt in unabgeschlossenen Gartenhütten und Garagen, wenn es geht, auch im muffigen „Bonifaz“, besucht Suppenküchen und Kleiderkammern. „Der Sandler“ ist die Geschichte von Karl, seinem Freund Lenz, von Mechthild und Kurt und noch anderen, und sie handelt „von der Scham des sozialen Abstiegs“, vom komplizierten und anstrengenden Leben auf der Straße, von den Gefühlen und Gedanken dieser Menschen.

Der in Pfaffenhofen an der Ilm geborene Ostermair weiß, wovon er schreibt: Denn er erlebte Schicksale obdachloser Personen hautnah mit, als er Anfang der 2000er Jahre Zivildienst in der Bahnhofsmission München leistete. Später übernahm er dort Nacht- und Wochenenddienste. Er studierte an der Uni München Germanistik und Anglistik, erhielt ein Literaturstipendium der Landeshauptstadt München sowie mehrere Preise und Auszeichnungen. Die Lesung moderierte Propst Jürgen Jessen-Thiesen. Er stellte dem Autor diese Fragen zum Werk:

„Warum stellen Sie in Ihrem ersten Roman jene Menschen in den Mittelpunkt, die in der Obdachlosigkeit leben?

Es ist wichtig die Perspektive zu ändern. In der Literatur und im realen Leben sind Obdachlose immer am Rande der Gesellschaft. Ich wollte diese Perspektive brechen und umdrehen, weil das sonst kaum in der Literatur passiert.

Welche Absicht verfolgen Sie mit diesem Roman – ist es das Bestreben, gute Literatur zu schreiben oder möchten Sie auch einen Beitrag leisten für den gesellschaftlichen oder politischen Umgang mit Wohnungslosen?

Ich möchte beides erreichen. Es gibt in Bezug auf diese Menschen unzählige Klischees und Vorurteile. Durch den Perspektivwechsel kann man nachfühlen, wie komplex und kompliziert die Situation auf der Straße ist. Diese neue Sicht schützt hoffentlich vor Vereinfachungen und vermeintlich einfachen Antworten. Ich wollte nicht einfach nur einen „Themen-Roman“ schreiben, sondern auch hohe literarische Maßstäbe ansetzen, damit das Buch vielleicht länger im Gespräch bleibt als nur eine Saison.

Was von den Charakteren und Handlungen ist Wirklichkeit und was ist Fiktion?

Handlung und Hintergrundgeschichten der Figuren, also deren Namen, Herkunft und Schicksale, sind fiktiv. Äußerlichkeiten haben manchmal reale Vorbilder, wobei das auch neu zusammengesetzt ist. Beispielsweise ist mir in der U-Bahn ein Mann mit gesprungenem Brillenglas begegnet. Dieses Detail habe ich für Albert übernommen.

Welche Klischees über Wohnungslose sind aus Ihrer Sicht die schlimmsten?

Auf jeden Fall die freiwillige Obdachlosigkeit. Diese gibt es meiner Meinung nach nicht, sondern es ist vielleicht eine Ablehnung des Hilfesystems, das in manchen Großstädten teilweise unzumutbar ist mit Schimmel, Ungeziefer oder großen Mehrbettzimmern. Als Weiteres: Die soziale Hängematte. Der Mensch will immer auf irgendeine Art wirksam sein. Faulheit und Arbeitsscheu waren schon immer ein Hauptvorwurf, weshalb es früh zur Zwangsarbeit kam. Diese wurde während des nationalsozialistischen Regimes ins Extrem getrieben. Auch die Kriminalität Obdachloser ist oft auf die Kriminalisierung von Armutsbewältigungs-Strategien zurückzuführen.

Welche Rolle spielen Zufluchtsorte wie Bahnhofsmissionen? 

Sie sind wichtig, weil sie sehr niedrigschwellig sind und Rückzugsorte schaffen, wo man neben Essen und Kleidung auch Ruhe finden kann. Aber es ist eigentlich nur Symptombekämpfung. Es bräuchte privaten Wohnraum, um die Problematik wirklich zu lösen.

Worin liegt die größte Schwierigkeit, aus dem Teufelskreis von Wohnungs- und Arbeitslosigkeit herauszukommen?

Da gibt es viele individuelle Gründe. Ein Leben auf der Straße kostet extrem viel Kraft und Energie, aber auch strukturelle Gründe. Da ist mangelnder, bezahlbarer Wohnraum zu nennen, denn es gibt auch Obdach- und Wohnungslose, die eine Arbeit haben. Ob sie diese in ihrer prekären Situation lange halten können, ist fraglich.“

Lesungen machen hungrig: Im Anschluss an die Veranstaltung gab es Brokkolicremesuppe, frisch gekocht von der Hauswirtschafterin der Bahnhofsmission, Frauke Tramm. Hier gab es ausreichend Gelegenheit, sich über das soeben Gehörte auszutauschen. Besonderer Dank wurde dem Organisations-Team gezollt, das die Veranstaltung mit „allem Drum und Dran“ organisiert hatte.

Weitere Beiträge